Gemeinsam mit Baikal und Tanganjika zählt der Ohrid in Albanien bzw. Makedonien zu den ältesten und auch faszinierendsten Seen der Welt. Von den Eiszeiten links liegen gelassen entwickelte sich in ihm eine Tierwelt mit noch heute 146 endemischen Arten.
Sanft wogt das grüne Schilf im Wind hin und her, Enten lassen sich im See treiben, dann und wann verschwindet eine ansatzlos unter der Wasseroberfläche. In der Ferne dröhnt Balkan-Pop aus dem Lautsprecher einer Imbissbude, an der sich viele Menschen drängen. Das unmittelbar am Ufer des Ohridsees gelegene Kloster Sveti Naum zieht Wallfahrer aus ganz Makedonien an. Einige davon verwechseln den in Gedanken versunkenen Reisenden aus Österreich mit einem einheimischen Fährmann und wollen eine Bootsfahrt buchen. Das Missverständnis ist rasch geklärt und der echte Schiffer gefunden. Mit fünf etwas betagten und sehr festlich gekleideten Damen an Bord tuckert er in Richtung Südwesten auf den See hinaus. Die langsam wiederkehrende Stille tut gut. Nach einigen anstrengenden Autostunden, die auf albanischen Straßen von Elbasan über Librazhd und den Thana-Pass führten, tut Entschleunigung wahrlich gut.
Bereits von der Passhöhe auf 960 Meter eröffnet sich ein erster Blick auf den Ohridsee, dessen Wasserfläche von 350 Quadratkilometern jene des Neusiedlersees nur unwesentlich übertrifft. Mit einer Tiefe von bis zu 289 Metern liegt der „Liqeni i Ohrit“, wie der See auf albanischer Seite genannt wird, allerdings im Ranking der europäischen Binnengewässer weit vorn. Außerdem zählt der Ohrid neben dem Baikal- und dem Tanganjikasee zu den ältesten der Welt. Die sein Alter betreffenden Schätzungen schwanken zwischen zwei und fünf Millionen Jahren. Mit wesentlich präziseren Informationen als die Geologen warten die Archäologen auf. Die Halbinsel, die heute das malerisch gelegene, albanische Dorf Lin beherbergt, ist zumindest seit der Eisenzeit besiedelt. Zu den ältes- ten kunstgeschichtlichen Zeugnissen zählen die Fußbodenmosaike einer frühchristlichen Basilika aus dem 6. Jahrhundert.
Im Gegensatz zum reizvollen Lin weist die Stadt Pogradec kaum alte Bausubstanz auf. Ein Streifzug durch die Märkte der albanischen Stadt, in der rund 40.000 Menschen leben, führt vor Augen, dass das Ohridwasser in der ansonsten trockenen Region einen intensiven Obst- und Gemüseanbau ermöglicht. Landwirtschaft stellt neben der Fischerei und dem Fremdenverkehr die wichtigste Erwerbsquelle der Bevölkerung dar. Apropos Tourismus, Enver Hoxha pflegte sich von den Strapazen seiner Tätigkeit als Diktator am Ufer des Ohridsees zu erholen, und zwar im Ort Tushëmisht am südlichen Seeufer unmittelbar vor der Grenze zu Makedonien. Eine Vielzahl an unansehnlichen Betonbunkern erinnert hier heute noch an den von Paranoia getriebenen Politiker.
Etwa zwei Drittel des Ohridsees befinden sich auf makedonischem Staatsgebiet, wobei Ohrid sowohl wirtschaftlich als auch touristisch als Zentrum fungiert. Die direkt am Seeufer gelegene und von der Samuil-Festung überragte Stadt zählt zu den schönsten des Balkans und wartet auch mit vielen Sehenswürdigkeiten wie dem malerischen Altstadtviertel, einigen Kirchen aus dem frühen Mittelalter, einem römischen Theater sowie mehreren Moscheen und Museen auf.
Die interessantesten Zeugen der frühen christlichen Kultur der Region lassen den Weg an das der Stadt Ohrid gegenüberliegende Ufer als lohnenswert erscheinen. Zwischen Struga und Radozda klammern sich einige winzige Kirchen Adlerhorsten gleich an die steil aufragenden Felsen. Am eindrucksvollsten: Sveti Atanas bei Stenje mit Fresken aus dem späten 14. Jahrhundert und einer einfachen mit Schnitzarbeiten verzierten Ikonostase sowie Sveti Arhangel Mihail in Radozda. Diese mehr als 700 Jahre alte Felsenkirche ist mit Fresken aus den verschiedensten Epochen geschmückt. Die ältesten Wandbilder – davon ein Porträt des Erzengels – stammen aus dem 13. Jahrhundert, während jüngere Schichten mit farbkräftiger wirkenden Fresken aus dem 15. und 16. Jahrhundert aufwarten.
Kultur macht hungrig und das Ufer des Ohridsees bietet sich geradezu für ein Picknick an. Davon lässt sich eine kleine Schlange nicht beirren und schwimmt keine zwei Meter an den pausierenden Reisenden vorbei. Ob es sich um ein endemisches Reptil handelt? Die Ohrid-Fauna weist heute 146 Arten auf, die ausschließlich in diesem See leben. Ursache für die Konzentration an nirgendwo anders vorkommenden Tieren ist der Umstand, dass der See nie vergletschert war und damit unbeschadet an der Eiszeit vorbeischrammte. Der Ohrid wird deshalb auch als „Museum der lebenden Fossilien“ bezeichnet.
Etwas kurios mutet der Umstand an, dass das Gewässer ohne wesentlichen Zufluss das Auslangen findet. Der See wird durch Quellen gespeist, wobei sich die wichtigste bei Sveti Naum befindet. Hier beginnt sich nach Sonnenuntergang der Wasserspiegel in mannigfaltigen Rottönen zu verfärben. Draußen auf dem See geht noch ein einziger Fischer seinem Handwerk nach und holt Netze ein – in der Hoffnung, dass darin ein Exemplar der berühmten Ohrid-Forelle zappeln möge. Die endemische Fischart ist zwar vom Aussterben bedroht, wird aber dennoch rund um den See als Delikatesse geschätzt und in diversen Restaurants allem Artenschutz zum Trotz angeboten.
Ein zuerst leises, dann kontinuierlich lauter werdendes Tuckern durchbricht den Gedankenfluss. Die fünf Wallfahrerinnen kehren in der Dämmerung vom kleinen Bootsausflug zurück. In ihren Gesichtern spiegelt sich Zufriedenheit. Danach steigen sie in den wartenden Bus. Nach dessen Abfahrt herrscht wieder Stille. Absolute Stille.
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