Die Entdeckung der Einsamkeit: Pferdereiten in Mazedonien


Schon mal mit dem Pferd durch die Berge Mazedoniens geritten? Wir schon! Unser Redakteur erklärt, warum das auch für Nicht-Reiter – so wie für ihn selbst – ein herausforderndes, dafür aber umso wunderbareres Abenteuer ist. Und die wahrscheinlich beste Methode, das kleine, unbekannte Balkanland und seine Leute kennenzulernen.

„Nach diesem Trip“, prophezeit uns der Mann mit Vollbart, stählernem Blick und einwandfreiem Ost-Akzent, „werdet ihr ein komplett neues Selbstvertrauen haben. Ihr werdet mehr Energie haben als vorher, und weniger Angst. Feel the energy of your horse. Ihr werdet die Kraft eures Pferdes spüren, und ihr werdet diese Kraft in euch aufnehmen. Forever.“


Die Überzeugung, mit der uns der Vollbärtige dies mitteilt, duldet keine Zweifel. Also nicken wir bedächtig, sind innerlich aber naturgemäß skeptisch. Energie des Pferdes in uns aufnehmen? Esoterisches Gelaber, kann man da schnell mal denken, wir sind doch hier, um ein neues Land und eine neue Kultur kennenzulernen, aber bestimmt nicht auf einem Selbstfindungs-Trip.

Wir sind im Hinterland Mazedoniens. Genauer: Mavrovo-Nationalpark, im Nordwesten des kleinen Balkanlandes, von dem man selten etwas zu hören bekommt, mal abgesehen von zwielichtigen Korruptionsskandalen und Grenzabschottung. Egal, denken wir uns, wir fahren trotzdem hin, oder gerade deshalb.


Und der Mann mit Vollbart, der heißt Vasko. Wären wir nicht gerade in Mazedonien, man würde ihn einen Cowboy rufen. Er ist einer, der auf dem Pferd sitzt, als hätte er nie etwas anderes getan. Hat er auch fast nicht, könnt man behaupten, Vasko wuchs quasi auf dem Pferd auf, im kleinen Bergdorf Galičnik auf 1.500 Metern. Hier oben wird seit jeher, und auch heute noch, das Pferd für feierliche Hochzeitsfestivitäten und weniger feierliche Holzarbeit eingesetzt.

Es war aber erst im fernen Ausland, bei einer Kanada-Reise, dass das für ihn Selbstverständliche in ein neues Licht rückte: „Ich war dort 14 Tage mit einer geführten Reitgruppe unterwegs, und hinterher dachte ich: Hey, das wäre doch die beste Möglichkeit, Besuchern mein eigenes Land näherzubringen – von einem Pferderücken aus. Die Pferde waren ja immerhin schon da, die mussten eigentlich nur noch gesattelt werden“. Seine lobenswerte Mission dabei: „Die Leute wieder mit der Natur in Einklang bringen“.


Startschuss also für Sherpa Mountain Horseback Riding. Sherpa, „weil wir hoch in die Berge reiten, fast so wie im Himalaya“. Nun gut Vasko, von den Himalaya-Gipfeln ist das Dinarische Gebirge im Balkan schon noch ein paar tausend Höhenmeter entfernt, aber auf 2.764 m bringt es der Golem Korab an der Grenze zu Albanien immerhin auch, fast schon Zugspitze.

Bis auf die Weingegenden im Südosten – und irgendwo muss der ausgezeichnete Vranec für das Lagerfeuer später ja herkommen ­– ist Mazedonien wirklich überraschend gebirgig.



Und genau deshalb sind wir hier: Um dieses unbekannte Bergland samt seinen Leuten endlich besser kennen zu lernen, und zwar auf Pferden, klimaneutral und geländetauglich. Vasko wird uns die nächsten vier Tage durch seine Heimat guiden, mit dabei ein bunter Haufen: Paolo aus Portugal, Michelle aus den USA, Kalle aus Finnland und Tomislav aus Kroatien.

Inklusive seinem 5-jährigen Sohn Tan. Ob das nicht etwas jung ist für doch recht tagesfüllende Ausritte? „Ach, das beste, was man einem Kind geben kann, in möglichst viel Zeit draußen und in den Bergen“, mein Tomislav darauf, „ich habe uns extra einen traditionellen Sattel aus Spanien bestellt, ich will nämlich, dass er vor mir sitzen kann und auch die Landschaft genießen kann!“


ZIEGEN MELKEN, KÄSE MACHEN, LOSREITEN


Überzeugt, los geht’s: Wir starten unsere Expedition nur ein paar Steinwürfe von Vaskos Geburtshaus entfernt, aber nicht, ohne vorher noch die Grundlagen im Ziegenmelken und Mozzarella-Produktion beigebracht zu bekommen: „Hier anpacken, push it, nicht zimperlich sein, squeeeze!“. Soviel zu organischen Lebensmitteln: Selbstproduzieren heißt es hier.


Nach einer bodenständigen Einschulung für die Huftier-Novizen unter uns hüpfen wir dann endlich in die Sattel, motiviert-schwungvoll, Zügel straff in der Hand. Ja, zugegeben, ein bisschen nervös ist man schon, das erste Mal auf einer halben Tonne gestählter Muskeln. Nervös und klein. Meine schwarz-weiße Rennmaschine hört auf den Namen Cvetko (sprich: Tschwetko) und ist, augenscheinlich wie alle Pferde hier „a really good horse.

Unsere Pferde sind das ganze Jahr über im Freien, fressen sieben Monate die besten Berggräser. Nichts da mit Stallhaltung. Look, how strong! So gute Pferde findest du sonst nirgends, nowhere else.“


Die Startetappe: ein dezenter 4-Stunden-Ritt durch Buchenwälder und verlassene Bergdörfchen. Nicht gerade zimperlich, und eines wird schon sehr schnell klar: Nix da mit entspanntem Transportservice, das wird verdammt harte Knochenarbeit.

Unser Tagesziel: Lazaropole, 1.350 m, permanente Einwohnerzahl: Fünf. Schon irgendwie cool, in einem Dorf anzukommen und zu fragen: Wo kann ich mein Pferd anbinden?


Wir nächtigen im rustikalen Berghotel Kalin, aufgetischt wird Wildfleisch und Rotwein. Und natürlich Rakija. Alles lokal und selbstproduziert, die Mazedonier essen fast nur, was sie selbst angebaut oder geschossen haben. Der Rakija sorgt für guten Schlaf, daran kann es also nicht liegen, dass sich am nächsten Morgen mein Rücken anfühlt wie nach zwei Wochen Dauerklettern, mein Hintern wie nach zehntausend Höhenmetern biken und meine Beine wie nach einer trans-alp Wanderung. Nein, die Erkenntnis: Reiten ist Ganzkörpersport!


MIT PFERD ZUM HIGH-MOUNTAIN-BASECAMP




Zurück in den Sattel, man hofft auf den Gewöhnungseffekt, sonst werden sich die sieben Stunden am zweiten Tag wohl noch viel länger anfühlen. Und tatsächlich: Es geht schon besser, man fängt an, die neue Art der Fortbewegung zu genießen. Zuerst reiten wir durch Wald bergauf, schließlich die Baumgrenze, dann plötzlich: Unendliche Weiten, schneebedeckte Berge grasige Hochebenen. „Willkommen im schönsten Teil Mazedoniens“, schreit Vasko von vorne zurück und setzt zum ersten Galopp des Tages an.

So langsam setzt auch ein gewisses Bewusstsein ein: Hey, wir reiten gerade durch das mazedonische Bergland, wie abgefahren ist das denn! Nach ein paar Stunden, die nächste Erkenntnis: Seit zwei Tagen haben wir unterwegs keinen anderen Menschen gesehen, keinen Auto gehört, noch nicht mal ein Flugzeug erspäht. Nichts, absolut nichts, was dich hier vom Genuss des Moments ablenken würde. Reiten, schauen, staunen. Nun beginnt man auch Vaskos Worte zu verstehen, der da letzte Nacht irgendwann einem alten Guru ähnlich sprach: „Reiten ist meine Form von Meditation. Reiten macht glücklich. Ich will, dass möglichst viele Menschen dieses Glück spüren können, you will feel happiness.“

Durch Mazedonien reiten, ja das macht glücklich, und das fühlt sich auch irgendwie an wie eine Zeitreise. Ungefähr so muss es in den Alpen vor 100 Jahren gewesen sein. Natürlich, die Hütten-Infrastruktur, die Lifte, die Forstwege, das fehlt dann halt auch, aber dafür sind wir nicht hier. Hier ist die Entdeckung der Einsamkeit angesagt, away from it all. Und diese Landschaft, durch die wir reiten, die eignet sich ganz wunderbar dafür: Die Berge sind hoch, aber nicht so hoch, dass sie einem den Blick versperren würden: Einmal oben auf den gemächlichen Grasrücken hat man eine Rundumsicht, die man so bei uns nur auf über 3.000 Metern hat; hunderte Kilometer können die Augen ungebremst in jede Richtung schweifen!


Noch mehr zum Glück: die zweite Nacht werden wir im Hochlager verbringen, Zelt und Lagerfeuer, so wie sich das für echte Cowboys eben gehört. Am Menüplan: Lamm, the traditional macedonian way. Und wieder Rakija, der traditionelle Obstbrand, der gehört sowieso immer und zu allem dazu. So sitzen wir also am Lagerfeuer, singen mazedonische Volkslieder, essen mazedonisches Lamm, trinken mazedonischen Rakija.

Daneben turnt Tan, der Fünfjährige, über ein paar Felsen, quiekt vergnügt und ist noch fitter als so mancher Erwachsene unter uns. „Unglaublich, wie sich seine Persönlichkeit in so kurzer Zeit verändert hat“, kommentiert Tomislav, der Vater. „Er spielt den ganzen Tag und beschwert sich über rein gar nichts.“

Im Hintergrund hundert Gipfel, sechs Pferde und ein surrealer Sonnenuntergang. Momente wie diese sind dann nur mehr sehr schwer zu toppen im Leben.

Feel the energy of your horse. Spätestens am Lagerfeuer wird uns allen klar, wie Vasko das gemeint hat. Und dass er, der bärtige Pferdemann aus dem mazedonischen Bergdorf, mit allem Recht hatte, was er gesagt hat. Irgendwie fühlt man sich, trotz der ganzen körperlichen Mitgenommenheit, nach dem Reiten viel besser als vorher. Danke, lieber Cvedto. Ich weiß jetzt: Mazedonien ist ein wunderbares Land. Yes, I feel it now.